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Wie viel Selbst braucht das Wir? 1

Wie das Ausleben individueller Interessen die Partnerschaft beflügeln oder belasten kann

Wer frisch verliebt ist, dem verursachen bereits wenige Momente ohne den Partner fast ein körperliches Unwohlsein. Zum Glück ähnelt sich das Nähebedürfnis zweier Frischverliebten meist so stark, dass sie in vollkommenem Einklang jede freie Minute miteinander verbringen.

Ist die Beziehung dann der ersten rauschhaften Phase entwachsen, verändern sich diese Bedürfnisse allmählich: Häufig streben Partner dann auch nach Beschäftigungen außerhalb der Beziehung, die ihre Individualität unterstreichen. Ob das regelmäßige Treffen mit Freunden sind, ein persönliches Hobby oder die berufliche Weiterentwicklung, kann im Einzelfall ganz unterschiedlich aussehen.

 

Darf ich meine eigenen Interessen gegenüber meiner Beziehung abgrenzen?

Der Wunsch, sich innerhalb einer Partnerschaft seine Autonomie zu erhalten oder diese zu entwickeln, ist grundsätzlich gesund. Wer sich als Individuum entfaltet, ermöglicht auch dem Paar das gemeinsame Wachstum, indem er frische Einflüsse in die Beziehung bringt und sein Gegenüber anregt, mit eigenen Entwicklungsprozessen auf den größeren Freiraum zu reagieren. Hier bekommen beide die Chance zur Co-Evolution und treffen sich im besten Fall auf einer höheren Beziehungsebene wieder.

Über die langfristigen Entwicklungen hinaus, gilt für einen abwechslungsreichen Alltag die simple Regel: „Wer auch einmal getrennt ausgeht, hat sich später etwas zu erzählen.“. Doch so einfach, wie es klingt, ist der Umgang mit der wachsenden Eigenständigkeit des Partners nicht - schließlich ruft jedes Wegbewegen in der Liebe eine emotionale Reaktion hervor: „Liebt er mich noch?“, „Verbringt sie lieber Zeit mit ihren Freundinnen als mit mir?“, sind dann typische Fragen.

Wie viel Eigenständigkeit verträgt die Zweisamkeit?

Der Schlüssel zur Harmonie liegt in der Ausgewogenheit zwischen Nähe und Distanz. Verschmelzen zwei Menschen zu einem Wir, das die Ich-Identitäten völlig auflöst, erstarrt die Beziehung mit der Zeit. Sind zwei so sehr auf ihre Eigenständigkeit bedacht, dass sie kaum Kompromisse machen, die die Zweisamkeit unterstützen, finden sie sich bald in einer Zweck-WG wieder.

Besonders problematisch ist die Konstellation, in der ein Partner für sich selbst einen neuen Lebensaspekt entdeckt, während der andere möchte, dass alles so bleibt, wie es war. Antwortet der weniger Flexible auf das Autonomiebestreben seines Partners mit dem wachsenden Wunsch nach Bindung, bis hin zum Klammern und zu offener Kritik, treibt er sein Gegenüber zu noch größerer Distanz. So entsteht ein Teufelskreis, der die Beziehung gefährdet.

Gibt es unverletzbare Grenzen? Paaridentität vs. Selbstidentität

Wie aber definiert ein Paar das Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz? Hier geht es darum, sich der eigenen und gemeinsamen Grenzen bewusst zu werden.

Zwischen zwei Partnern verläuft eine Grenze der Individualität, die durch eigene Interessen, Bedürfnisse und Geheimnisse aufrecht erhalten wird. Ihre Existenz ist wichtig, damit die echte Begegnung und damit die reife Beziehung zweier Menschen überhaupt möglich wird. Doch ein Paar bildet in einigen Aspekten auch einen abgeschlossenen Kreis nach außen hin. Im Innern existieren Exklusivität und Intimität, die nur dem Partner vorbehalten sind – nach außen hin wird ein repräsentatives Auftreten gepflegt, das die Paar-Identität stärkt. Diese geistigen Membranen der Beziehung sind nie undurchlässig, jedoch gewährleistet ihre Stabilität ein fruchtbares Miteinander.

Kampf um Nähe und Distanz offenbart zuweilen tief liegende Bindungsängste

Manch einer möchte voll und ganz in einer Partnerschaft aufgehen, ein anderer ergreift die Flucht, wenn Nähe und Verbindlichkeit zu groß werden – diese Verhaltensmuster haben ihre Wurzeln häufig in der Kindheit. Unbewusst suchen wir nach einem Partner, der lebt, was uns fehlt, um unsere Defizite auszugleichen. Endlich Nähe zulassen oder vertrauensvoll loslassen zu können, streben wir mit der Wahl unseres Gegenübers als Vorbild zwar an – landen dann aber häufig wieder in bekannten Verhaltensmustern. Wir laufen weg oder klammern so stark, dass es dem Partner die Luft nimmt. Wenn auf diese Weise mehrere Beziehungen einen ähnlichen Verlauf nehmen, bekommen wir den Eindruck, alle Vertreter des anderen Geschlechtes würden sich auf dieselbe Art miss-verhalten. An dieser Stelle lohnt es sich, mit therapeutischer Unterstützung dem Problem im eigenen Bindungsverhalten auf die Spur zu kommen.

Wie können Paare mit wachsender Autonomie des Einzelnen umgehen?

Spüren Partner, dass im Alltag Konflikte aufgrund ihrer unterschiedlichen Bedürfnisse nach Autonomie entstehen, hilft eine offene und respektvolle Kommunikation. Wie stellen sich beide Partner jeweils den Alltag und seine Themen hierarchisch und zeitlich vor? Die kurzen Momente auf dem Sofa, die den Trubel des Tages von der Nachtruhe trennen, werden zwar häufig nebeneinander verbracht, sind aber keine Qualitätszeit als Paar. So wie wir es ebenfalls für Freunde und Hobbys tun, sollten wir uns aktiv für Zeit mit unserem Partner entscheiden und sie fest einplanen. Gemeinsame Erlebnisse bilden dann ein natürliches Gegengewicht zu den individuellen Interessen.

Die Persönlichkeit des Einzelnen profitiert von der Paar-Dynamik

In einer Beziehung wird unser Selbstwert stets ein bisschen herausgefordert. Es treten Mechanismen zutage, die wir uns nicht gern eingestehen: Suchen wir Selbstbestätigung vorwiegend in der Zuwendung unseres Partners oder sind wir bestrebt, uns abzugrenzen, um unser Selbstbewusstsein zu erhalten? Beides macht es einer harmonischen und gleichberechtigten Beziehung schwer.

Eine echte Paarbeziehung ist ein Tanz – ein stetiges Spiel aus Nähe und Distanz, das inspiriert und die Weiterentwicklung beider fördert. Sich neu zu verlieben ist möglich, wenn man unbekannte Seiten am vertrauten Partner entdecken kann.

Wie das Selbst das Wir stärkt, hat auch Khalil Gibran im Gedicht „Von der Ehe“ sensibel in Worte gefasst. Dort heißt es:

Singt und tanzt zusammen und seid fröhlich, aber lasst jeden von euch allein sein,

so wie die Saiten einer Laute allein sind und doch von derselben Musik erzittern.

Und steht zusammen, doch nicht zu nah:

Denn die Säulen des Tempels stehen für sich,

Und die Eiche und die Zypresse wachsen nicht im Schatten der anderen.

Bildnachweis: Kathrin Stavenhagen