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Du bist mehr als das Produkt deiner Eltern!

„Ich bin das Produkt meiner Eltern.“, diesen Satz habe ich gestern wieder einmal von einem Klienten gehört. Natürlich ist das richtig – aber es zu generalisieren greift zu kurz. Und dafür will ich ein wenig ausholen. Um unser Selbst besser zu verstehen, müssen wir wissen, dass wir verschiedene Bewusstseinsebenen haben: die bewussten, vorbewussten und unbewussten Anteile der Persönlichkeit, die jeweils Auswirkungen auf unser Verhalten, Denken und Fühlen haben.

Eine (versucht) kurze Definition:

Das Bewusste oder Bewusstsein ist das, was wir jetzt im Moment bewusst Erleben, die augenblickliche Wahrnehmung mit unseren Gedanken und Gefühlen. Im Bewusstsein ist alles, was wir jetzt gerade denken, fühlen und tun. Es umfasst alle Zustände, die wir bewusst erleben, beispielsweise alle Gedanken, Vorstellungen, Ideen, Gefühle und Wahrnehmungen, die wir auch nach Belieben in den Fokus rücken oder zur Seite schieben können.
Das Vorbewusste sind unsere Erinnerungen und unser Wissen, das durch aktiv gelenkte Aufmerksamkeit wieder in unser Bewusstsein gebracht werden kann. Vorbewusst heißt, dass die Inhalte im Moment uns nicht bewusst sind, aber jederzeit wieder bewusst gemacht werden können. Es ist das, was wir erinnern können, wie z. B. die Erinnerungen von Wahrnehmungen, Handlungen, Erlebnissen, Personen, Bildern. Darauf können wir nicht sofort zugreifen, sondern erst durch aktives Suchen wieder ins Gedächtnis bringen.

Das Unbewusste oder Unterbewusstsein sind verdrängte, meist unangenehme Erinnerungen oder Triebe, automatisch ablaufende körperliche Prozesse (Atmung, Lidschlag, Herzschlag, Verdauung,...), Gedanken und Empfindungen, die nicht in unser Bewusstsein vordringen. Das Unbewusste steuert unser Verhalten und unsere gefühls- und körperlichen Reaktionen bis zu 98 %. Es kann bis zu 80.000 Informationen pro Sekunde aufnehmen, verarbeiten und speichern und ist damit 10.000 Mal schneller (und klüger) als unser bewusster Verstand. Unbewusste persönliche Erlebnisse und Erfahrungen sind solche, die wir selbst bei größter Anstrengung nicht abrufen können.

Und dann gibt es noch das kollektive und familiäre Unbewusste, was uns ebenfalls beeinflusst

Das kollektive Unbewusste ist sicher bekannt. C.G. Jung sprach erstmals vom kollektiven Unterbewusstsein und versteht darunter die Speicherung von Erfahrungen aus der gesamten Menschheitsgeschichte in unserem Unbewussten. Er sah das kollektive Unbewusste als Essenz von Erfahrungen, die die Menschheit, während ihrer Evolution verinnerlicht hat und die als Grundlage unserer heutigen seelischen Erfahrungen und Verhaltensmuster in uns wirken.

Das familiäre Unbewusste ist nicht so bekannt. Das erblich bestimmte familiäre Unbewusste steuert die Lebensgeschichte eines Menschen (lt. Leopold Szondi, Schicksalsanalyse). Dieses familiäre Erbe ist in unseren Genen gespeichert und bildet eine ebenso wesentliche Grundlage unserer Existenz, denn sie repräsentiert die Normen, Werte und Lebensgestaltungen unserer Vorfahren in Bezug auf Liebe, Familie, Krankheit, Beruf und sozialer Kommunikation. In jedem Nachgeborenen ist dieses Erbe lebendig.

Im familiären Unterbewusstsein spiegelt sich die gesamte Familiengeschichte. Neugeborene entwickeln sich im Einklang mit dieser – ihrer – Geschichte hinein. Ereignen sich im Lebenslauf einer Person schwierige Vorkommnisse, über die nicht gesprochen wird, die tabuisiert werden, so entstehen Geheimnisse. Dabei geht es meist um Themen wie Geld oder Sexualität, Konkurse, Firmenpleiten, Betrug, Diebstahl, Ehebruch, Seitensprung, Inzest, Vergewaltigungen, Mord, Abtreibungen, uneheliche Kinder, Aggressionen, Sucht etc. Diese Geheimnisse werden unbewusst auf die nachfolgende Generation übertragen und von dieser bearbeitet. Das kann so erfolgen, dass Nachgeborene versuchen, etwas „besser“ oder „wiedergut“ zu machen, nicht wissend wieso. Oder das sie ähnlich reagieren und es zu Wiederholungen des Ursprungskonflikt kommt. Typisch dafür sind z. B. Aussagen wie: “Ich weiß nicht, was mich getrieben hat. Es ging einfach mit mir durch.”.

Ebenso gehören Erwartungen dazu. Ein Kind spürt, was seine Familie und Eltern von ihm erwarten und wird sich entsprechend verhalten und anpassen. Indem es das tut, hilft es seinen Eltern, ihre Bedürfnisse zu erfüllen oder Probleme zu lösen. Das heißt, Eltern beeinflussen durch ihre Erwartungen an ihre Kinder („Meinem Kind soll es einmal besser gehen.“), die Entwicklung und Lebensgestaltung des Kindes. Andererseits beeinflussen unsere Kinder uns ebenfalls, indem sie tun oder nichttun, was Eltern von ihnen erwarten.

Szondi war überzeugt, dass neben dem individuellen und kollektiven, auch das familiäre Unterbewusstsein einen wesentlichen Einfluss hat. Ein Ansatz der Schicksalsanalyse ist, dass Menschen diesem Erbe nicht zwangsläufig ausgeliefert sind, sondern das sie aus vielen vorhandenen Möglichkeiten ihre Wahl treffen können. Er sah das Schicksal des Menschen in seinen für ihn lebensbestimmenden Wahl-Handlungen. Der Mensch hat die Wahl, auf seine, im Erbgut vorhandenen und schon von Vorfahren gelebten, besseren Potenziale zuzugreifen.

Deine Ahnen in dir

Wir alle stehen am Ende einer langen Ahnenreihe. Viele Ahnen waren in unserer Familie bereits vor uns da. Sie erarbeiteten sich Fähigkeiten und Fertigkeiten, überwanden Hindernisse und Grenzen, kämpften für ihre Rechte, liebten, lachten und weinten. Während ihres Leben haben sie viel gelernt und sich weiterentwickelt.

Wenn wir davon ausgehen, dass die letzten 3-4 Generationen durch Kriegstraumata der beiden Weltkriege, deren Nachwirkungen und Traumaweitergabe geprägt waren, sehen wir nur die eine Seite. Denn es gab auch Menschen, die viel bewirkt, aufgebaut, erneuert und geschaffen haben, und Erlebnisse, die bereichert, wunderbar, zugewandt und glücklich waren. Und wenn du in deiner Ahnenreihe zurückgehst, findest du dort auch viele Menschen, die ein erfülltes Leben hatten, Stärken und Ressourcen entwickelt haben und die dafür sorgten, dass die Ahnenreihe weiter wächst.

Die meisten von ihnen haben am Ende ihres Lebens die ein oder andere Erkenntnis gewonnen und konnten ihren Frieden machen, weil sie den Sinn ihres Lebens erkannten und verstanden. Sie haben erfahren, worauf es ankommt im Leben und genau diese Weisheit gaben sie ebenso an ihre Nachfahren weiter. Sei es noch persönlich an ihre Kinder und Enkel oder auch nach ihrem Tod durch das weitertragen ihrer Geschichte oder der Familienenergie.

Du, im Kontext deiner Ahnenfamilie

Heute sehen wir unseren Lebensweg oft isoliert in zweierlei Richtungen: MEIN Leben, MEIN Lebenssinn, MEINE Aufgaben, MEIN Weg und so weiter. Und das das Negative, Schwere, das Leidvolle oder der Mangel in den Vordergrund gerückt werden. Das mag sicher richtig sein, doch sollten wir uns und unser Leben auch im Gesamtkontext unserer Familie und Ahnen, der Gesellschaft und deren Kultur sehen. Wir alle sind wie ein großer Organismus, in dem jeder seinen Platz und seine Aufgabe hat.

So verfügen wir über eine langen Familien- und Ahnengeschichte. Jede Familie mit ihren Talenten, Traditionen und Bedürfnissen, mit ihren Konflikten, Schwierigkeiten und Geheimnissen, mit Stärken und Schwächen, mit Verstehen und Verständnis und ebenso mit Liebe und Zugehörigkeit, wie auch mit Abbrüchen und Abneigungen.

Oft höre ich von Klienten: “Ich weiß gar nicht, warum ich hier bin. Ich trage eine permanente Traurigkeit in mir.”. Sie erzählen, dass sie ihr Leben eigentlich nicht wirklich leben, dass etwas in ihnen ist, das nicht sie selbst sind, gegen das aber so stark ist, dass sie nichts dagegen ausrichten können. Manchmal auch, dass sie sich getrieben fühlen, übertrieben auf bspw. Unrecht reagieren, wütend sind oder nicht entscheiden können. Oder sie sehen vordergründig nur das Schlimme ihrer Kindheit, Jugend oder Jungerwachsenenzeit. Was alles nicht war, wie schwer sie es hatten, welcher Mangel bestanden hat und vielleicht sogar noch immer besteht. Und das auch im Erwachsenenalter.

Leopold Szondi spricht von einem unsichtbaren Schicksalsplan und siedelt darin das familiäre Unbewusste an. Es umfasst die biologischen, psychologischen, mentalen und sozialen unbewussten Lebensbereiche und Aspekte des Menschen, also den Lebensplan. Es ist ein imaginatives Band, dass alle Familienmitglieder vertikal über Generationen hinweg verbindet und ebenso die horizontale Verbindung, die alle lebenden Familienmitglieder mit einschließt.
Das Phänomen, den Gedanken des familiären Unbewussten auf unsere Familie angewandt, lenkt den Blick darauf, dass wir eben doch keine isolierten Individuen sind. Auch unsere Eltern unterlagen den Erwartungen und Vorgaben ihrer Eltern und geben an uns Kinder diese nur weiter. Denn, unser Leben und unsere Entwicklung werden vom Kontext der Herkunftsfamilie sowie von den Ideen, Erwartungen, Ansprüchen, Konflikten und Ressourcen, die sich durch Generationen durchziehen, begleitet und beeinflusst. Von der einen zur nächsten Generation bewegt sich im Lauf der gesamten Zeit ein mächtiger Strom, der einerseits von Konflikt und Kampf um Chancen, Wachstum und Möglichkeiten geprägt ist, andererseits aber dieses Erbe im gesamten Sinn zur Nutzung und Bewahrung durch die Nachkommen weitergibt.


Jeder Mensch hat ein persönliches Ahnen- und Erbgut und es ist das kollektive Schicksal, dass wir damit verbunden und davon geprägt sind. Allerdings ist es unser individuelles Schicksal, das im Einzelnen unsere Lebensgestaltung übernimmt. Diese Betrachtungsweise nimmt dem Schicksalsgedanken den einseitigen, negativen und beängstigenden Aspekt und das Gefühl ausgeliefert zu sein. Schicksal in diesem Sinn bedeutet somit Chance und Vertrauen in die Entwicklung und Beeinflussung unseres eigenen Lebensplanes. Das Erforschen und Durcharbeiten der persönlichen Geschichte und Vergangenheit bildet einen wesentlichen Abschnitt für die Identitätsfindung und Kontinuität im eigenen Leben.
Machen wir das Beste für uns daraus und für unsere Kinder und Kindeskinder.

Wenn du an deiner Familien- und Ahnengeschichte arbeiten möchtest, um deren Wirkung auf dein Leben auf die Spur zu kommen oder um deinen Lebensplan zu finden, dann schreib mir gerne eine Nachricht. Ich freue mich auf dich.

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